Mit der Veröffentlichung eines Wegbegleiters ist es so eine Sache. Wann ist der Weg zu Ende? Welcher Sachverhalt soll besprochen werden, welcher nicht? Die Auswahl bleibt natürlich immer ein Stück weit subjektiv und unvollständig. Während meiner Lesungen und Gesprächen mit anderen Betroffenen stoße ich daher immer mal wieder auf Themen, die auch in mein Buch hätten einfließen können. Eines davon möchte ich euch heute näherbringen: Fatigue.
„Ich glaube, ich bin ein Faultier.“ – Fatigue bei Krebserkrankungen
Ich hatte das große Glück, nicht selbst von Fatigue betroffen gewesen zu sein. Während meiner Recherchen zu meinem Buch kam das Thema nur selten auf und eigentlich immer erst im Kontext einer Belastungsstörung nach dem Ende der Behandlungen. In der Zwischenzeit weiß ich, Fatigue ist weder so selten, wie ich dachte, noch tritt sie unbedingt erst hinterher auf! Von daher dachte ich mir, ist es höchste Zeit, diese häufige Nebenwirkung mal näher zu beleuchten. Dazu habe ich mir zwei Expert:innen ins Boot geholt, die hier beide aus unterschiedlichen Perspektiven wertvolle Einblicke in dieses Thema teilen:
Dr. Sabrina Han, promovierte Sportwissenschaftlerin und Fatigue- und Schlafcoach, liefert Hintergrundwissen und konkrete Tipps zum Umgang mit Fatigue.
Anett Kaczmarek, selbst Brustkrebsbetroffene und heute Bloggerin, Autorin und psycho-onkologische Begleiterin, weiß selbst nur zu gut, wie es ist, mit Fatigue zu leben und berichtet als Betroffene aus ihrem Alltag.
Aber zunächst einmal, was ist Fatigue eigentlich?
Dr. Sabrina Han:
Fatigue beschreibt eine unendliche Müdigkeit und Erschöpfung auf allen Ebenen, die aber durch Schlafen nicht weniger wird. Ganz im Gegenteil, Schlafen wird als nicht erholsam empfunden und die Betroffenen wachen morgens manchmal müder auf als sie abends ins Bett gegangen sind. Sie fühlen sich körperlich völlig erschöpft, sie sind geistig nicht in der Lage, sich Dinge zu merken oder sich auf etwas zu konzentrieren und auch emotional kann es zu Traurigkeit, Antriebslosigkeit bis hin zu depressiver Verstimmung kommen. Apropos Depression: Die Differenzierung zwischen Depression und Fatigue ist sehr schwierig, weil sich die Symptome beider Erkrankungen stark ähneln und sich auch gegenseitig hervorrufen oder verstärken können.
60 bis 90% aller Patient:innen sind während der Krebsbehandlung von Fatigue betroffen. Oft werden die Symptome schwächer und gehen sogar einige Monate nach Abschluss der Therapie von allein wieder weg. In 20-50% aller Fälle bleibt sie jedoch auch nach Abschluss der Therapie bestehen. Sie kann sogar auch erst Jahre nach Therapieende entstehen. Fatigue kann ein Dauerzustand sein, aber es kann auch durch bestimmte Trigger schlagartig ausgelöst werden und dann geht über Tage, manchmal über Wochen gar nichts mehr.
Das Problem: viele Betroffene wissen oft gar nicht, dass sie unter Fatigue leiden und tun es als Nebenwirkung der Therapie ab. Sie sprechen nicht mit ihrem Arzt darüber und können so auch nicht adäquat behandelt werden. Da Fatigue aber auch körperliche Ursachen haben kann (zum Beispiel Anämie) sollte die Müdigkeit unbedingt ärztlich abgeklärt werden.
Fatigue führt zu einer sehr starken Eingrenzung der Lebensqualität und wird häufig als das schwerwiegendste Symptom der Krebserkrankung beschrieben, weil es eben alle Lebensbereiche beeinflusst. Der Haushalt, die Hobbies, die Freunde, manchmal sogar die eigene Familie, alles wird zu anstrengend und als Last empfunden. Das Schlimmste dabei ist, dass es vom Umfeld als Faulheit oder ein „Nicht-Wollen“, ein „Ich will Aufmerksamkeit“ abgetan werden kann. Hier fehlt oft Verständnis, vor allem, wenn diese ätzende Müdigkeit nach Abschluss der Therapie auftritt. Schließlich sind der Krebs und die schlimme Therapie nun überstanden, die Patient:innen sehen mit den rosigen Wangen und den spießenden Haaren oft aus wie das blühende Leben. „Dann ruh dich halt mal richtig aus!“ oder „Dann mach mal etwas Sport!“ sind gut gemeinte Tipps, die den oder die Betroffene sich noch unverstandener fühlen lässt. Sie wollen doch so gerne, aber es geht einfach nicht.
Wie sich das konkret anfühlt, schildert Anett Kaczmarek so:
„‘Ich glaube, ich bin ein Faultier.‘
Die Therapie ist vorbei, die Reha steht bevor und mich hat eine bleierne Müdigkeit überfallen. Die einfachsten Dinge kosten Kraft, ich brauche Pausen und Mittagsschlaf. Es fühlt sich an, als bewege ich mich im Zeitlupentempo und ich muss befürchten, dass mein frisch gewachsenes Haupthaar bald von Moos überzogen wird wie bei einem Faultier, das träge am Baum hängt.
Ich sollte doch glücklich sein, täglich Fortschritte machen in meiner Genesung, wieder zu Kräften kommen, damit ich wieder in meinen Beruf und meinen Alltag zurück kann. Stattdessen schlafe ich viel und lang, habe ein Gedächtnis wie ein Sieb, Konzentration mangelhaft und alles fällt mir schwer. Ich möchte gerne mal wieder ein Buch lesen und den Inhalt behalten. Möchte ohne Anstrengung einem Gespräch folgen können oder mit der Freundin shoppen gehen, ohne gleich von den Eindrücken überfordert zu sein. Mein Hirn scheint nur noch eine Durchgangsstraße für Informationen auf der Durchreise zu sein.
Der Onkologe sagt, der Körper wird circa ein Jahr benötigen, um alles zu verarbeiten und wieder in Ordnung zu bringen.
Die Psychologin sagt, die Psyche hängt nach und kommt oft erst nach überstandener Therapie zum Tragen.
In meinem Umkreis fallen Worte wie Depression und ich sollte doch Geduld haben mit mir.
Ich bin einfach nur frustriert und erschöpft, so unglaublich erschöpft.
Ich fange an, mich zu belesen. Fatigue-Syndrom hatte der Onkologe mal flüchtig erwähnt.
Die onkologische Reha bringt mir keine neuen Erkenntnisse. Mein Zustand bessert sich nicht wirklich, obwohl ich vieles aus der Reha in meinen Alltag einbaue. Ich habe inzwischen herausgefunden, dass mein Zustand Phasen unterliegt und auch wetterabhängig ist, während mein Onkologe immer noch meint, ich bräuchte einfach mehr Zeit als andere Patienten.
Zeit, die ich nicht habe.
Das Krankengeld ist ausgeschöpft, das Arbeitsamt ist jetzt für mich zuständig und die Erwerbsminderungsrente wurde in erster Instanz abgelehnt. Ich möchte doch einfach nur in meinen normalen Alltag zurück und ich möchte wieder arbeiten, eine Aufgabe haben.
So geht fast ein Jahr ins Land, bis ich zu einer weiteren Reha fahre. Fast 3 Jahre nach meiner Brustkrebs-Diagnose erhalte ich nun offiziell die Diagnose Chronisches Fatigue Syndrom.
In vielen Einzelgesprächen analysiere und strukturiere ich mit Hilfe des Psychologen meinen Alltag, ich lerne Entspannungstechniken und entdecke für mich den Wald als Ort zum Ruhe und Kraft tanken und auch, dass mir Alleinsein gut tut. Hier in der Reha fühle ich mich endlich verstanden und ernst genommen. Ich bin nicht faul oder träge, ich drücke mich nicht vor dem Arbeitsleben – ich habe eine Krankheit!
Ein Faultier bin ich noch immer, aber ich weiß jetzt warum und vor allem, wie man das Faultier vom Baum locken kann.“
Und wie kann das jetzt konkret gehen, das Faultier vom Baum locken?
Dr. Sabrina Han:
Bei Vorliegen von starker Müdigkeit sollte die erste Anlaufstelle immer der behandelnde Arzt sein. Weiterhin können Psychoonkologen, spezielle Fatigue-Coaches oder Selbsthilfegruppen hilfreiches Input geben.
Da die Fatigue meistens nicht aus EINEM Grund entstanden ist, sondern aus einem Komplex vielerlei Ursachen, ist auch die Therapie multifaktoriell. Medikamentöse Therapien nehmen hier jedoch einen eher unterstützenden Platz ein. Im Fokus der Behandlung stehen nicht-medikamentöse Therapieansätze:
Bewegung
Was rastet, das rostet. Ein alter Spruch, der so viel Wahrheit enthält. Denn geht es mir nicht gut, bin ich erschöpft, müde, habe Schmerzen, dann ziehe ich mich in mein Schneckenhaus zurück. Ich werde inaktiv. Muskeln, die nicht gefordert werden, bauen ab, Gelenke werden steifer, meine Motorik wird ungeschickter, ich werde unzufriedener, sogar meine Gedächtnisleistung leidet darunter. Das alles wird nicht dazu führen, dass ich mich besser fühle. Zum Sport aufraffen fällt dann noch schwerer. Und so beginnt der Teufelskreis, die Spirale der Inaktivität. Auch wenn es noch so schwerfällt: Bewegung ist DAS Mittel, das bei einer Fatigue am effektivsten hilft. Hier muss es nicht der Marathon sein, es muss nicht 30 min sein, es muss nicht schweißtreibend sein. Kurz: Es MUSS gar nichts. Denn es sollte guttun, es sollte Freude bereiten und es sollte für den Betroffenen/die Betroffene machbar sein. Und wenn es nur 5 min Gymnastik im Schlafanzug sind, oder eine kleine Runde um den Block im eigenen Tempo oder zwei Mal statt ein Mal die Treppe rauf und runter. Jeder Schritt macht fitter. Und aktive Erholung gibt dir mehr Energie, als du durch Schonung einsparen kannst. Aber: es darf auch nicht zu anstrengend sein, denn sonst schlägt die Fatigue zurück. Gehe langsam, behutsam und schonend um und finde etwas Schönes für dich! Denn nur, wenn es dir Freude bereitet, dann wirst du dich aufraffen können und es langfristig durchhalten.
Schlaf
Des Weiteren sollte der Schlaf optimiert werden. Hier gibt es Tipps und Tricks rund um eine gesunde Schlafhygiene, die den Tag und die Nacht so darauf ausrichten, dass sich die Schlafqualität verbessert.
Energiemanagement
Da es im Großen und Ganzen immer um das Thema Energiemanagement geht, sollte auch geschaut werden, wie der Tag gestaltet werden kann, so dass er machbar ist. Welche Dinge müssen tatsächlich erledigt werden, welche nicht, wo kann Hilfe geholt und was kann abgegeben werden. Welche Aktivitäten kosten wieviel Kraft und bringen welchen Effekt. Ein Energietagebuch hilft hier sehr, sich selbst zu reflektieren und sich darüber klar zu werden, was mir meine Kraft raubt. Auch der Umgang mit Stress ist ein wichtiger Baustein.
Kraftquellen
Im gleichen Zug kann geschaut werden, wie neue Kraft getankt werden kann. Das Erlernen von Entspannungstechniken, aber auch das sich selbst belohnen dürfen und den Genuss (wieder-) zu erlernen ist essentiell und fordert etwas an Mindset-Arbeit. Eine Liste mit Dingen, die früher Freude bereitet haben oder Dingen, die auf der Bucket-List stehen, können hier hilfreich sein.
Ernährung
Auch wenn die Ernährung eine untergeordnete Rolle in der Behandlung von Fatigue spielt, lohnt sich auch hier mal ein kritischer Blick, ob eine Mangelernährung vorliegen könnte.
Den gesamten Artikel könnt ihr euch auch hier kostenlos als pdf herunterladen.
Mein herzlicher Dank an meine beiden Co-Autorinnen für das informative Input zum Thema. Weitergehende Informationen und die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme findet ihr hier:
„Ich bin Dr. Sabrina Han. Ich bin promovierte Sportwissenschaftlerin und zertifizierte Schlafcoachin. Ich habe ein großartiges Fatigue-Coachingprogramm erstellt, das Brustkrebspatientinnen auf ihrer Reise aus ihrer Müdigkeit heraus begleitet. Ich mache sie zur Expertin ihrer Müdigkeit, damit sie wieder genug Power und Lebensfreude für Sport, für die Family und sich selbst haben.“
Instagram: www.instagram.com/Sabrina_fatiguecoach
E-Mail: fatiguecoach@web.de
„Ich bin Anett Kaczmarek. Mit 41 Jahren erhielt ich die Diagnose Brustkrebs.
Mein Blog „Horst muss sterben“ entstand mit der Diagnose und beschreibt bis heute das Leben mit Krebs, in der Therapie und auch die Zeit danach mit allen Höhen und Tiefen. Darin stelle ich immer wieder Informationen zur Verfügung, schreibe über meinen Alltag, gebe Buchempfehlungen, vernetze mich mit anderen Bloggern oder Autoren und möchte in erster Linie Mutmacher für Betroffene und Angehörige sein.
Meine Devise – Das Leben ist trotz Krebs schön!
2020 habe ich eine Ausbildung zum psychoonkologischen Begleiter und 2021 eine Ausbildung zum Meditationsleiter im Fernstudium abgeschlossen. Ich arbeite ehrenamtlich in der FrauenselbsthilfeKrebs und mache dort eine Ausbildung zum FSH Selbsthilfecoach. Seit 2020 schreibe ich auf Anfrage Texte, bin Ghostwriter oder Coautor.“
Blog: horstmusssterben.blogspot.com/
Facebook: www.facebook.com/anett.brunnig
@mittenimlebennachkrebs
Instagram: www.instagram.com/anettkaczmarek/